Einer der zentralen Gestaltungsparameter in der Fotografie ist die Perspektive. Um die Perspektive einer Szene bewusst kreativ gestalten zu können hilft es, die Grundlagen der Perspektive zu verstehen und etwas über Fluchtpunkte zu wissen. Wer bereits auf dem Zeichenbrett Illustrationen mit Fluchtpunkten und perspektivisch fliehenden Linien gearbeitet hat, hat beim Fotografieren einen Vorteil. Doch das Grundwissen lässt sich in Grundzügen rasch und ausreichend vermitteln.
Fluchtpunkt und fliehende Linien
Was entfernt ist, wirkt kleiner, kürzer und schmaler – deshalb scheinen die Straßen vor unseren Füßen zum Horizont hin immer enger zu werden. An und für sich verlaufen die beiden Straßenränder natürlich parallel zueinander. Doch wenn wir ihnen mit den Augen in die Ferne folgen, scheinen sie sich am fernen Horizont an einem Punkt zu treffen. Der Punkt an dem sie sich scheinbar treffen wird Fluchtpunkt genannt.
Ein Fluchtpunkt | Mit einem einzigen Fluchtpunkt nehmen wir vor allem flache Objekte wahr. Nicht nur Solche, die sich über die Fläche unter und vor unseren Füßen erstreckt, sondern auch senkrecht stehende Mauern (zum Beispiel am Rande eines Weges) oder in den Himmel ragende Wolkenkratzer vor unserer Nase.
Perspektive mit einem Fluchtpunkt. Wo sich die beiden Ränder der Straße in der Ferne zu treffen scheinen, liegt der Fluchtpunk. |
Senkrechtes Objekt mit einem Fluchtpunkt das sich in die Ferne (Tiefe) erstreckt. |
Senkrechtes Objekt mit einem Fluchtpunkt, das sich in die Ferne (Höhe) erstreckt. |
Perspektiven mit nur einem Fluchtpunkt können einen regelrechten Tiefensog entwickeln. Vor allem wenn Sie mit Weitwinkel fotografiert wurden. Aufnahme mit Canon Powershot G12 (das Klapp-Display hat die niedrige Kameraposition erlaubt) und Brennweite 28mm. |
Zwei Fluchtpunkte | Bei dreidimensionalen Objekten sind meist (mindestens) zwei Fluchtpunkte im Spiel. Zwar lässt sich ein Würfel mit nur einem Fluchtpunkt auf dem Reißbrett konstruieren doch in der Realität ist er ebenso unmöglich, wie manch anderes Konstrukt.
Damit ein dreidimensionales Objekt (zum Beispiel ein Haus) Tiefe bekommt, darf es nicht frontal abgelichtet werden, sondern aus der Diagonalansicht. |
Man kann nicht gleichzeitig die Vorderseite eines Würfels oder Quaders frontal und zusätzlich eine Seite sehen. |
Der oben abgebildete Würfel ist in der Realität so unmöglich wie dieses konstruierte Objekt. |
Frontal- und Diagonalansicht
Wenn man sich direkt vor eine Hausfassade stellt und es frontal ablichtet, dann ist es unmöglich gleichzeitig eine im rechten Winkel dazu angelegte Seitenwand zu sehen. Objekte die in der direkten Frontalansicht abgelichtet sind zeigen in der Regel nur kurze Linien die in die Tiefe fliehen. Die Frontalansicht erzeugt deshalb oft etwas langweilige und flache Bilder.
Frontaler Blickwinkel vor einem Objekt. | Die Frontalperspektive wirkt meist sachlich und flach. Frontal meint übrigens nicht nur den Blick von vorne, sondern auch direkt von der Seite oder exakt von hinten. |
Bewegt man sich von der Mitte der Front weg und passiert eine der beiden Gebäudeecken, kann man in der Diagonalansicht zwei Seiten sehen. Jede dieser Seiten hat dann ihren eigenen Fluchtpunkt.
Diagonaler Blickwinkel auf ein Motiv. | Durch die Diagonalperspektive werden Aufnahmen meist räumlicher, dynamischer und spannender. |
Auch wenn es durchaus Situationen und Motive gibt, bei denen die Frontalansicht zum besten Ergebnis führt. Pauschal kann man behaupten, dass die Diagonalansicht in der Regel spannendere Perspektiven und Resultate erzeugt. Die Frontalansicht hingegen neigt zu sachlicheren, ruhigeren, aber eben oft auch langweiligeren Perspektiven. Dabei darf ›Frontalansicht‹ nicht ausschließlich als Blick von vorne verstanden werden. Vielmehr versteht man darunter auch den Blick im 90°-Winkel von der Seite oder direkt von hinten – jede Ansicht die im rechten Winkel zu Front, Rücken oder Seite steht. Diagonalansichten sind umgekehrt alle Blickwinkel dazwischen, die eine schräge Perspektive auf das Objekt liefern.
Abbildungen in der Frontalansicht wirken nüchtern, statisch und sachlich. Je exakter ein 90° Winkel in Breite und Höhe eingehalten wird, desto sachlicher die Wirkung. |
Diagonalansichten wirken spannender und dynamischer. Besonders wenn Weitwinkel-Brennweiten im Spiel sind. |
Man sollte sich sich, wann immer möglich, bewusst mit dem Blickwinkel auf Motive auseinander und die unterschiedliche Wirkung der Ansichten nutzen, um dynamische Spannung oder statische Sachlichkeit zu vermitteln.
Eine Ausnahme, in der Frontal- und Diagonalansicht absolut gleichwertig zu betrachten sind, stellt die People- und Porträtfotografie dar. Zwar führt auch hier die Diagonalansicht zu einer besonders plastischen Wiedergabe. Doch kein Motiv zieht unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse mehr an, als ein Gesicht, das uns direkt entgegen blickt.
Der diagonale Blickwinkel betont in der Regel die Physiognomie von Gesichtern deutlicher, als die frontale Ansicht. Allerdings berühren uns Porträts, bei denen der Porträtierte nicht in die Kamera blickt, weniger als solche, bei denen er dem Betrachter entgegen sieht. |
Blickt uns eine Person direkt in die Augen, dann können wir unsere Aufmerksamkeit kaum entziehen. Das kennen wir aus täglichen Begegnungen mit Mitmenschen. Es wirkt aber aus Bildern genauso. |
Durch bewussten Einsatz von Frontal- oder Diagonalansicht lassen sich Motive statisch und sachlich oder dynamisch und spannend gestalten.
Drei Fluchtpunkte | In unserer Alltagserfahrung ist die natürlichste Perspektive jene, in der geometrische Körper drei Fluchtpunkte haben. Meist liegen dann zwei Fluchtpunkte in der Ferne auf oder in der Nähe des Horizonts und einer in der Tiefe weit unter unseren Füßen.
Drei Fluchtpunkte erzeugen in der Regel äußerst dynamische Ansichten. |
Drei Fluchtpunkte entstehen wenn man sich einem Motiv diagonal nähert und dabei einen tiefen Standpunkt von unten hinauf, oder einen hohen Standpunkt von oben herunter wählt. Beim Blick auf Alltagsobjekte führt diese Perspektive entweder zu sehr gewöhnlich empfundenen Ansichten wenn die Perspektive mit drei Fluchtpunkten moderat ausfällt, oder zu besonders ungewohnten und bemerkenswerten Ansichten, wenn die Fluchtpunkte eng beieinander liegen und die Perspektive extrem ist.
Für dieses Element eines Gebäudes habe ich bewusst mit betonter Perspektive gearbeitet, indem ich nahe an das Gebäude herantrat und eine mittlere Brennweite mit 60 mm wählte. Deutlich zu erkennen, wie die Linien nach links, nach rechts und nach oben auf drei verschiedene Fluchtpunkte zu fliehen. Eine kürzere Brennweite hätte die Wirkung noch verstärkt, doch dann wäre der Bildausschnitt zu groß geworden und der Turm hätte seine dominierende Wirkung verloren. |
Am deutlichsten zeigt sich dieser Effekt beim Abbilden von architektonischen Objekten. Einerseits kann man aus geringer Distanz und mit Weitwinkel dramatisch fliehende Linien erzeugen, die die Höhe von Objekten betonen können. Die bekanntesten Beispiele dazu sind die Blicke den Wolkenkratzern entlang gen Himmel aus den Straßenschluchten von Großstädten. Fällt die Perspektive jedoch moderat aus und fliehen die Linien in die Höhe nur gering, dann wird das meist als störend empfunden. Der Effekt rührt daher, dass wir beim Ablichten von Architektur in der Regel aus der Froschperspektive heraus fotografieren. Wir müssen die Kamera mehr oder weniger leicht nach hinten kippen und die Blickrichtung nach oben schwenken um auch das Dach mit abbilden zu können. Das Resultat der geneigten Blickachse ist, dass die Fassaden der Gebäude die wir so ablichten nach hinten zu fallen scheinen.
Weitwinkel und Nähe zum Objekt bewirkt, dass – neben den fliehenden Linien nach links und nach rechts hinten – auch die Linien nach oben fliehen. In diesem Bild wird dadurch die Höhe drastisch betont. |
Auch hier sind drei Fluchten zu erkennen: Nach links hinten, nach rechts und nach oben. In diesem Fall wird aber keine Dramatik erzeugt, sondern die Aufnahme wirkt einfach nur misslungen. |
Wieder gilt, dass der Fotograf sehr bewusst mit der Perspektive arbeiten muss, möchte er beeindruckende Bildergebnisse erzielen, die als handwerklich souverän gemacht empfunden werden.
Der Inhalt dieser Online-Fotoschule ist in erweiterter Form auch als Buch erhältlich: »Die kreative Fotoschule – Fotografieren lernen mit Markus Wäger« Rheinwerk-Verlag 2015, 437 Seiten, gebunden, komplett in Farbe ISBN 978-3-8362-3465-8 Buch: 29,90; E-Book: 24,90 Weitere Informationen und Demokapitel auf der Website des Verlags; Affilate-Link zum Buch bei Amazon. |
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